21. Januar 2022
Wann ist es Zeit, dass die letzte Zeile einer Biografie geschrieben sein müsste?
Ich habe in den vergangenen Jahren fünf Biografien im Auftrag geschrieben. Daneben habe ich mehrere Menschen begleitet, bei denen es zu keiner veröffentlichten Biografie kam. Bei drei Persönlichkeiten war der letzte Augenblick selbst gewählt und durch Sterbehilfe begleitet.
Es ist mir jedes Mal nahegegangen. Jetzt gerade, wo eine sehr gute Bekannte kurz vor dem 93. Geburtstag einen weiteren, erheblichen chirurgischen Eingriff überstanden hat, habe ich mir erneut Gedanken über den «richtigen Zeitpunkt» gemacht.
Zufällig hatte ich vor einigen Monaten auf einem Spaziergang einen merkwürdigen Baum angetroffen. Er hat für mich ein «Gesicht bekommen» – und eine eigene Geschichte, die mit Leben und Sterben eng verknüpft ist.
Ein Baum wie ein Charaktertyp. Mit einem langen, ereignisreichen Leben und neuen Trieben / © H.W.Rodenhausen
Dutzende Male habe ich diesen Baum fotografiert. Das letzte Mal in der Nacht vor dem 1. November 2021. Da inspirierte mich dieses «Gesicht» zu einem Haloween-Bild. Wir neigen halt dazu, alles was zwei Augen hat und andeutungsweise Nase und Ohren, zu vermenschlichen.
Aber ungeachtet dessen – es ist ein Lebewesen. Es atmet, und jeder Sauerstoff-Ausstoß dieses Baumes und aller anderen Bäume ist unser Atem. Und umgekehrt, alles was wir an Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und anderer Moleküle ausatmen, ist Lebenskraft für die Bäume.
Am Haloween-Tag 2021 konnte noch mit ihm gespukt und gespenstert werden / © H.W.Rodenhausen
Und dann, knapp zehn Wochen nach Haloween, lag der alte Baum kümmerlich und gebrochen im Gras. Erst da wurde mir bewusst: er ist nicht jetzt gestorben, oder in den letzten zehn Wochen. Er starb schon lange, immer mehr, Tag für Tag. Nur war es dann wohl der erste Frost, der den letzten Kick gab und dem Baum den letzten Halt nahm. Dass wir Menschen auch Tag für Tag «sterben» ist mir bei diesem Anblick so richtig bewusst geworden.
In den ersten Januartagen 2022 gebrochen und zu keinen Blatt-Trieben mehr fähig. © H.W.Rodenhausen
Wann also anfangen, eine Biografie zu schreiben – oder schreiben zu lassen? Wann zu wissen, wann der letzte Satz eigenhändig formuliert oder einem Biografie-Autor das letzte Interview ermöglicht werden kann?
Es gibt kein «Jetzt-oder-nie-mehr», das sich zum voraus in der Agenda eintragen lässt. Aber ich habe es mehrfach erlebt, dass der Beginn eines biografischen Schreibens einen anderen Blick auf das eigene Leben wirft. Oft auch mit anderer Bewertung dieser oder jener Ereignisse, dieser oder jener Eigenschaften, derer man sich selbst rühmt oder auch schämt.
So gesehen ist es nie zu früh, ein Notizbuch zu kaufen und bei sich zu tragen, um Beobachtungen, Begegnungen und Empfindungen aufzuschreiben.
Der Tod des Baumes – als schon lange laufender Zersetzungsprozess – ist einfach einen Schritt weiter © H.W.Rodenhausen
Vielleicht führt das Bewusstwerden des «parallelen» Lebens und Sterbens im selben Augenblick, in derselben Minute, am gleichen Tag, zu einem anderen Verhältnis zum Dasein. Und möglicherweise sogar zu einem «Darüberhinausdasein», einer anderen Form des Lebens – ohne diesen materiellen Körper, ohne dieses irdische Schauspiel.
Der Baum neben dem abgestorbenen/sterbenden Baum kann über die Wurzeln Lebenskraft übernehmen. Der Mensch, nahe verbunden mit anderen Menschen, vielleicht auch – und umgekehrt.
Jemand wird das Totholz abräumen – oder Insekten und Mikroorganismen arbeiten noch einige Zeit daran weiter © H.W.Rodenhausen
Und: es gibt ja nicht nur Wurzeln, die in die Erde reichen, es gibt auch «Wurzeln» für das Übersinnliche/Jetztnochmaterielle. – Auch von daher können Impulse kommen, können sich positive Veränderungen umsetzen lassen.